Eckhardt van den Hoogen
Hans Rott


Aktualisiert am
4. März 2018
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Internationale Hans Rott Gesellschaft
 
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     Es gibt eine mentale Marotte, die vielleicht nirgends anders auf der Welt so klar und deutlich ausprägt ist wie in diesem unserem Lande. Kaum geschieht auch nur einmal etwas unvorhergesehenes oder nie dagewesenes, müssen sogleich Konsequenzen ersonnen werden, deren Größenordnung nichts mit dem Ereignis und seiner tatsächlichen Tragweite zu tun hat. Oft genug wird man bei näherer Inspektion feststellen können, daß die soeben reklamierte Welterschütterung kaum mehr war als eine gelinde Flatulenz, die sich binnen kurzem und ohne medikamentöse Beigaben praktisch von selbst erledigt. Ein wenig Zeit, ein wenig Bedacht, und der hysterische Anfall ist vorbei - vorausgesetzt natürlich, daß die voraufgegangene Kanonade nicht unheilbaren Blessuren unter den Spatzen hinterlassen hat ...

     Gegen Ende der 1980er Jahre entdeckte der Musikwissenschaftler Paul Banks in den Archiven der Österreichischen Nationalbibliothek die Partitur der Symphonie E-dur von Hans Rott. Er verhalf ihr zu einem aufführungswürdigen Aussehen, sorgte dafür, daß das Werk der Öffentlichkeit vorgestellt wurde und hatte der Musikwelt damit unbestrittenermaßen einen großen Dienst erwiesen, denn immerhin tauchte ganz urplötzlich aus den Abgründen der Geschichte ein bemerkenswertes Stück auf, das es allemal verdiente, von den Freunden romantischer Tonkunst gehört zu werden.
     Erstaunlich waren aber die Reaktionen der Expertenkreise. Die von großem Talent kündende Kreation eines damals gerade 20jährigen Komponisten führte zu einem allgemeinen Aufschrei des Entzückens, denn offensichtlich war endlich die Henne gefunden, die das Ei des Columbus gelegt hatte. Jählings war der junge Hans Rott der Vater der neuen Symphonie, und der große Gustav Mahler, der Zeitgenosse der Zukunft, der Wegweiser zur Moderne, erwies sich als Plagiator, der sich aus dem Schaffen seines zwei Jahre älteren Studienkollegen anscheinend hemmungslos bedient hatte. Zwangsläufig verstieg man sich zu der Forderung, die ganze Musikgeschichte müsse umgeschrieben werden ...
     Inzwischen sind einige Jahre verstrichen. Die Wogen haben sich geglättet. Der eine oder andere dürfte sich darauf besonnen haben, daß Das klagende Lied nicht jünger, sondern mindestens ebenso alt, wenn nicht gar ein wenig älter ist und weit mehr "Mahler" enthält als die Symphonie von Hans Rott, an der sich die Begeisterung entzündete. Und womöglich gelangt man ja zu der Einsicht, daß es jetzt an der Zeit wäre, die Flurschäden momentaner Euphorie durch eine einerseits bedächtigere, andererseits aber auch umfassendere Sicht der Dinge zu beheben.
     Über genügend Material verfügen wir inzwischen. Neben vielen Einzelartikeln befassen sich zwei Buchpublikationen mit dem Phänomen Hans Rott, wobei vor allem die im Jahre 2000 von Uwe Harten herausgegebenen Kompilation mit Biographie, Briefen, Aufzeichnungen und Dokumenten aus dem Nachlaß von Maja Loehr (1888-1964) Beachtung verdient, weil sie Fakten und keine vorschnellen, zum Teil sogar unrichtigen Schlußfolgerungen liefert und überdies einen Einblick hinter die Mauern der Niederösterreichischen Landes-Irrenanstalt gewährt, wo Hans Rott den kläglichen Rest eines Lebens verbringen mußte, das unter zwar chaotischen, gleichwohl aber vielversprechenden Vorzeichen begonnen hatte.
     Geboren wurde Hans Rott am 1. August 1858 im 15. Wiener Bezirk als Sohn des Schauspielers Carl Mathias Rott (Roth) und der Sängerin und Schauspielerin Maria Rosalia Lutz. Die Heirat der Eltern konnte erst stattfinden, nachdem die erste Frau des Vaters 1860 verstorben war. Bei der Eheschließung im Oktober 1862 brachte Maria Rosalia gleich noch ein Kind mit, den am 20. Dezember 1860 geborenen Karl, als dessen Erzeuger Erzherzog Wilhelm in den Akten zu finden ist. Dessenungeachtet ließ Vater Rott die beiden Halbgeschwister legimitieren, so daß sie seit Anfang 1863 denselben Familiennamen führen konnten wie die - zumindest offiziellen - Eltern.
     Hans Rotts schulische Ausbildung verlief in den üblichen Bahnen, die finanzielle Situation war zufriedenstellend, und es gab keinen Grund, warum er seinen frühen musikalischen Neigungen nicht hätte nachgeben sollen. Im Wintersemester 1874/75 immatrikulierte sich Rott am Wiener Konservatorium, wo er schon bald für ein Jahr ganz vom Schulgeld befreit wurde und anschließend als Stipendiat sein Auskommen hatte. Er studierte bei Hermann Grädener Harmonielehre und bei Leopold Landskron Klavier. Zudem war er Orgelschüler von Anton Bruckner, der ihn sehr schätzte und ihm noch 1880 ein vorzügliches Zeugnis ausstellte.
     Indessen hatte sich die familiäre Lage drastisch verschlechtert. Schon 1872 war die Mutter gestorben, im April 1875 erlitt der Vater einen Bühnenunfall, der eine weitere Schauspieltätigkeit unmöglich machte und schließlich im Februar 1876 zum Tode führte. Hans Rott mußte zeitweilig als Kontorist arbeiten, konnte sich zugleich aber auch über zwei Ehrenpreise des Konservatoriums freuen, trotz aller Widrigkeiten seine Ausbildung fortsetzen und bald als Organist des Josefstädter Kirchenmusikvereins mit freier Wohnung einer "artgerechteren" Arbeit nachgehen.
     Derweil wuchs das eigene Werkverzeichnis. Das erste größere Produkt der Konservatoriumszeit war eine Symphonie As-dur für Streichorchester (1874/75); es folgten unter anderem ein Symphonie-Finale, je eine Ouvertüre zu Hamlet und zu Julius Cäsar und eine Orchestersuite; dazwischen verfaßte Rott geistliche und weltliche Chorsätze sowie einige Lieder. Außerdem entwirft er die Anfänge eines Oratoriums. Nachdem man ihn Anfang November 1878 auf eigenen Wunsch mit einem umfassenden Empfehlungsschreiben aus seinem Organistenamt entlassen hat, beginnt er mit der Ausarbeitung seiner Symphonie E-dur, deren ersten Satz er bereits im Juli desselben Jahres beim Kompositionswettbewerb des Konservatoriums eingereicht hat - trotz der Fürsprache Anton Bruckners erhält Rott als einziger Absolvent keinen Preis, obwohl ihm das Abgangs-Zeugnis bescheinigt, daß er den "Lehrkurs der Compositionsschule" mit vorzüglichem Erfolge beendet hat.
     Kleinere Reisen und Ausflüge, eine "große Liebe" - die erste und einzige seines Lebens - und die Vollendung der Symphonie fallen in die Jahre 1879/80. Das 1877 begonnene Pastorale Vorspiel wird abgeschlossen. Eine zweite Symphonie entsteht. Ein Sextett für Streicher ist fertig¹. Anfang September bemüht sich Hans Rott erfolglos, Hans Richter zu einer Aufführung der ersten Symphonie zu bewegen. Kaum zwei Wochen später besucht er Johannes Brahms, der neben Eduard Hanslick und Karl Goldmark über die Vergabe eines Staatsstipendiums zu entscheiden hat. Brahms bezweifelt, daß die Symphonie von Rott stammt, da neben so schönem wieder so viel Triviales oder Unsinniges in der Composition sei, daß dies erstere nicht von Rott herrühren könne. Noch einmal nimmt Hans Rott Anlauf. Er hat inzwischen bei einer Chorvereinigung im elsässischen Mülhausen/Mulhouse die Stelle eines Musikdirektors oder Chorleiters in Aussicht, doch auf eine mögliche Aufführung der Symphonie will er nicht verzichten: Am 14. Oktober spielt er Hans Richter das Werk vor. Am 21. bringen ihn seine Freunde zum Zug Richtung Mülhausen. Bei einem Zwischenaufenthalt in Linz hört er an den Wänden seines Zimmers Klopfgeräusche. Am 22. oder 23. fährt er weiter. Ein Mitreisender will sich eine Zigarre anstecken. Rott zieht seinen Revoler und bedroht den Mann. Er fürchtet, Brahms habe den Zug mit Dynamit füllen lassen. Am 23. Oktober wird er in vollständig verworrenem Zustande in die Psychiatrische Klinik des Allgemeinen Krankenhauses von Wien gebracht. Damit ist sein Todesurteil gesprochen. Nach einem ersten Selbstmordversuch wird Rott Anfang 1881 in die Niederösterreichische Landes-Irrenanstalt überstellt. Am 25. Juni 1884 stirbt er dort im Alter von nicht einmal 26 Jahren.
     Den Behandelnden muß man zu ihrer Ehrenrettung attestieren, daß Hans Rott verhältnismäßig lange durchgehalten hat. Robert Schumann brachte es in Endenich gerade mal auf zwei Jahre und fünf Monate, und Friedrich Hölderlin hätte wohl nicht einmal diese Spanne in der Autenriethschen Klinik zu Tübingen überlebt, wäre er nicht noch gerade rechtzeitig in den Turm des Schreinermeisters Zimmer gebracht worden: Wer wollte schon die Autenriethsche Maske, die die Insassen am Schreien hindern sollte und allen Beschreibungen nach Hannbibal Lecters Maulkorb täuschend ähnlich sahc - wer wollte ein solch menschenunwürdiges Gerät auch nur einen Tag überstehen, wenn er nicht ein wirklicher Psychopath ist?
     Ein Ausflug in den psychiatrischen Jetztzustand des Jahres 1880 scheint an dieser Stelle angebracht. "Die Einteilung der Geisteskrankheiten ist ... bis jetzt auf anatomischer Grundlage nicht zu machen", lesen wir in der damals aktuellsten Enzyklopädie, indessen wir unter demselben Stichwort erfahren, daß es sich bei Geisteskrankheiten um diejenigen Krankheiten handelt, welche sich durch Störungen im Gebiet der Sinneseindrücke, des Vorstellens, Wollens oder Handelns kundgeben. Tenor aller Ausführungen ist, daß Wahnideen, Wahnsinn und Verfolgungswahn grundsätzlich unheilbar sind, indessen sich die Psychiatrie - ohne zu erröten - als Seelenheilkunde apostrophieren läßt. Jede Abnormität, und sei's auch nur die, eine Berufung in sich zu spüren, kann als krankhaft ausgelegt und dementsprechend mit "Wegsperren" behandelt werden: Jede Überanstrengung des Gehirns, angestrengte geistige und gemütliche Erregung [= Erregung des Gemüts] ist zu vermeiden, dagegen soll ganz besonders die Ausbildung und Übung der körperlichen Kräfte im Auge behalten werden; es muß immer soviel wie möglich auf die einfachsten, geordnetsten äußern Verhältnisse, auf Fernhaltung leidenschaftlicher Erregungen, auf Gewöhnung an Unterordnung unter objektiv gegebene Verhältnisse hingewirkt werden.
     Was hier wie eine Karikatur klingt, sind Auszüge aus der vierten Auflage von Meyer's Konversations=Lexikon, das vier Jahre nach dem Dahinscheiden von Hans Rott auf den Markt kam. Hier finden wir die Behandlungsgrundlagen einer Clique, die - ungetrübt von jeder Sachkenntnis - seit jeher die Lizenz hat, den status quo zu erhalten, mithin auf die Gewöhnung an Unterordnung unter objektiv gegebene Verhältnisse zu achten, ob es sich dabei nun um Sozialdemokraten oder "größenwahnsinnige" Künstler handelte. Der Gulag war überall.³
     Damit soll ja nicht gesagt sein, daß es zum normalen Benehmen gehört, einen Raucher mit Waffengewalt von seinem Genuß abzuhalten. Doch der Mangel an Augenmaß, der die Zunft der selbsternannten Seelenklempner auszeichnet, ist auch im Falle des unglückseligen Hans Rott offensichtlich. Was wäre denn geschehen, wenn einige Freunde den zutiefst verunsicherten Komponisten zum Beispiel ins steierische Salzkammergut entführt, ihn mit einem Klavier, einem Stapel Notenpapier, einigen Festmetern Holz und einer Holzfälleraxt versorgt, wenn sie ihm in ruhiger Umgebung die Möglichkeit zu geistiger und körperlicher Tätigkeit gegeben hätten? So aber, umgeben von echten und eingebildeten Geisteskrankheiten, mußte er ebenso "überschnappen" wie Robert Schumann vor ihm.
     Beängstigend daran ist zweierlei: Die Willfährigkeit, mit der die vermeintlichen Diagnosen durch die Literatur weitergetragen werden, und die Selbstherrlichkeit der Diagnostiker, die immer nur die Symptome, nie aber die möglichen Auslöser kennen. Und gerade diese wären interessant. Wie kommt es denn, daß uns unter dem Stichwort Johannes Brahms sowohl Robert Schumann als auch Hans Rott und Hugo Wolf begegnen? Ist das wirklich nur biographischer Zufall? Anton Bruckner muß anderer Meinung gewesen sein, denn am Sarge seines Lieblingsschülers Rott machte er seinem ortsansässigen Konkurrenten Brahms solche Vorwürfe, daß sich selbst Rotts Freund Friedrich Loehr, der Vater der oben erwähnten Publizistin Maja Loehr, zu einem gedanklichen Spagat genötigt sah: "Ich glaube, Brahms hat dies [die Zurechtweisung] dem 'Anfänger' gegenüber, der mit dem Aufgebot grösster Ausdrucksmittel seiner Kunst einsetzte, in guter 'pädagogischer' Absicht getan, er konnte aus den Erfahrungen und Überzeugungen des eigenen künstlerischen Wachstums und Wesens heraus nicht anders, und ich glaube, dass er objektiv damit ein echtestes künstlerisches Unrecht begangen hat. Damals aber, es war knapp vor dem Ausbruch der Krankheit, war Rott überhaupt nicht mehr zu retten und seinem herben Geschick verfallen: seine Erkrankung, durch ganz andere psychische und seelische Momente hervorgerufen, hatte sich lange schon vorbereitet" (Friedrich Loehr, Die Musik, 1903/04).
     Der Klimmzug konnte nicht gelingen, denn einmal unterschlug Loehr die "ganz anderen Momente", und zum andern übersah er das Umfeld, in dem beispielsweise ein Heinrich von Herzogenberg über lange Jahre versuchte, Anerkennung zu finden; in dem sich ein Max Bruch fragen lassen mußte, woher er denn das schöne Notenpapier habe; und von dem auch eine Ethel Smyth - wahrlich ein zäherer Charakter als Rott oder Schumann - nicht eben schmeichelhafte Dinge zu berichten wußte. Überdies erinnere man sich des Brahms-Freundes Hans Richter, der die Penthesilea von Hugo Wolf nach Strich und Faden niedermachte, weil der junge Wolf den großen Brahms zuvor in seinen Kritiken angegriffen hatte ...
     Johannes Brahms soll hier keineswegs am Zeuge geflickt werden, da seien seine Werke vor. Es sollte einem aber doch vielleicht zu denken geben, daß Wolf und Rott - wie auch Gustav Mahler - Schüler von Anton Bruckner waren und sich nicht auf jener klassizistischen Linie bewegten, die mit dem Erhalt des status quo kokettierte. Allenfalls könnte man sich zu der eleganten Hypothese bereitfinden, die ganze Sache sei nichts weiter als ein perpetuiertes Mißverständnis gewesen, will sagen, Brahms hätte den Sinn der Trivialitäten, wie sie sich in Rotts symphonischer Partitur tatsächlich tummeln, nicht begriffen. Es wäre ein verträglicher Ausweg, insofern man das Schicksal des Mahlerschen Œuvres gleichsam als Zeugnis anführen könnte: Wie lange hat es nicht gedauert, bis die disparaten Substanzen seiner Werke als das erkannt wurden, was sie wirklich sind - Teile nämlich jener Welten, die Symphonien nach seiner Ansicht zu sein hatten? Wo die schönen Trompeten blasen, wo Bruder Jakob im Trauermarsch dahinzieht und wo Kuckuck sich zu Tod gefall'n hat, da streikten noch bis vor wenigen Jahrzehnten viele Beobachter, die ausgezogen waren, die Banalität das Fürchten zu lehren. Die Aufgabe des Zitats, der Anspielung, des thematischen "Schattenrisses", bei dem man nur ahnt, was hinter den Konturen zum Vorschein kommen könnte - all das blieb dem Blick der strengen Sittenwächter ebenso verborgen wie die Lebensleistung Robert Schumanns, den man wohl ohne Übertreibung als den eigentlichen Vater des literarisch-musikalischen Komponierens wird bezeichnen dürfen: Wer im ersten Thema des Klavierkonzerts nicht Florestans In des Lebens Frühlingstagen hört oder die mannigfachen Wandlung der beinahe obsessiven rhythmischen Bildung
mit ihren unterschiedlichen Ausprägungen nicht durch das gesamte Schaffen zu verfolgen, sondern höchstens die Marseillaise im Faschingsschwank wahrzunehmen imstande ist, der wird mit einem großen Teil des spätromantischen Repertoires seine liebe Not haben, ob es nun um Peter Tschaikowsky, Gustav Mahler, Hans Rott oder auch um Johannes Brahms geht, der ja ein Idiot hätte sein müssen, wenn er nicht sofort entdeckt hätte, welchen Spiegel ihm der junge Schüler seines Kontrahenten da am 16. oder 17. September 1880 vorhielt - eine symphonische Weltkarte des 19. Jahrhunderts, auf der auch er selbst, der norddeutsche Wahlwiener, als eine von vielen bekannten Größen aus Geschichte und Gegenwart verzeichnet war.
     Gewiß, Hans Rott hatte mit seinen nachgerade "unsittlichen" Avancen den Bock zum Gärtner gemacht und war in einer wundersamen Naivität jemandem auf die Zehen gestiegen, der das - wie sich im Finale der Symphonie zeigen wird - gar nicht mochte. Bei der "größenwahnsinnigen" Suche nach einer universellen Musik hatte er offenbar nicht bedacht, auf was er sich einließ, als er versuchte, die Wienerischen Antipoden Brahms und Brucker zu versöhnen und weit darüber hinaus auch noch verschiedene Stolpersteine wie Wagner und Schumann in seine Komposition zu integrieren.
     Versetzen wir uns doch in die Lage des damaligen Zuhörers und stellen wir uns vor, was er empfunden haben wird, als er im ersten Satz den Meistersingern von Nürnberg [bei ca. 5' der vorliegenden Aufnahme] begegnete oder im reichlichen Gebrauch des Triangls eine Beziehung zur Frühlingssymphonie vermuten mußte - ganz zu schweigen von den Anklängen an Lohengrin und Rheingold, die der Anti-Wagnerianer Nr. 1 nicht hätte ignorieren können. Der zweite Satz macht es auch nicht leichter, denn hier taucht nach einiger Zeit [1'40] das oben angedeutete Schumann-Motiv auf, das sich aufgrund seiner häufigen Anwendung unschwer mit "Clara" in Verbindung bringen läßt und Brahms wahrhaft geläufig war (man denke an den Anfang seiner dritten Symphonie). Hans Rott beläßt es nicht bei dem einmaligen Hinweis, nein, er wiederholt das Motiv einige Minuten später noch einmal [4'30], damit es auch "jeder Esel hört" - sehr wahrscheinlich ohne zu wissen, welchen Nerv er damit treffen würde.
     Und im Finale treibt er's gar zu arg. Nachdem er ganz im Sinne der fünften Symphonie von Anton Bruckner zunächst das vorherige Geschehen hat Revue passieren lassen, wählt er eine Melodie, die (unabsichtlich?) provoziert: Die Nähe zum Finalthema aus der ersten Symphonie von Johannes Brahms ist so offenkundig [4'40], daß sich der Gutachter vielleicht sogar auf den Arm genommen fühlte. Die Wiederholungen [8'20 und 12'25] werden den ungünstigen Eindruck nur noch verstärkt haben, und daß der Komponist den quasi-zitierten Brahms schließlich mit den Göttern in Walhall einziehen ließ, machte seinen Geisteszustand evident: Hans Rott war der primären Verrücktheit erlegen, die meist junge Individuen von 17-25 Jahren oder ältere, namentlich Frauen, im 40.-50. Lebensjahr befällt.
     Aus der Sicht des Kommilitonen Gustav Mahler stellte sich der Sachverhalt völlig anders dar. Zwar hatten sich die beiden Studenten furchtbar darüber gestritten, ob man zum Komponieren Rostbraten brauche oder sich nicht vielmehr mit Quargeln (= eine Art Harzer Käse) bescheiden könne; doch die Auseinandersetzung zwischen dem Rostbratkomponisten Rott und dem Quargelkomponisten Mahler ging nie so weit, daß darunter die gegenseitige Wertschätzung gelitten hätte. Noch im Irrenhaus antwortete Rott auf die Frage, ob er sich an Mahler erinnere: "Gewiß, gewiß, Mahler ist ein Genie" (nach den Aufzeichnungen des Freundes Joseph Seemüller). Und dieser äußerte: "Was die Musik an ihm verloren hat, ist gar nicht zu ermessen: zu solchem Fluge erhebt sich sein Genius schon in seiner Ersten Symphonie, die er als zwanzigjähriger Jüngling schrieb und die ihn - es ist nicht zu viel gesagt - zum Begründer der neuen Symphonie macht, wie ich sie verstehe. Allerdings ist das, was er wollte, noch nicht ganz erreicht. Es ist, wie wenn einer zu weitestem Wurfe ausholt und, noch ungeschickt, nicht völlig ans Ziel hintrifft. Doch ich weiß, wohin er zielt. Ja, er ist meinem Eigensten so verwandt, daß er und ich mir wie zwei Früchte von demselben Baum erscheinen, die derselbe Boden erzeugt, die gleiche Luft genährt hat. An ihm hätte ich unendlich viel haben können und vielleicht hätten wir zwei zusammen den Inhalt dieser neuen Zeit, die für die Musik anbrach, einigermaßen erschöpft" (Gustav Mahler in den Erinnerungen von Nathalie Bauer-Lechner).
     Daß Gustav Mahler die E-dur-Symphonie schon früh genau gekannt hat, ist dokumentiert: Joseph Seemüller, der Rott am Heiligen Abend des Jahres 1882 einen Besuch abstattet, berichtet dem bedauernswerten Freund, der einstige Weggefährte habe das Werk kürzlich im privaten Kreise gespielt. Welchen Einfluß aber die Partitur auf Mahlers eigenen Weg ausgeübt, welche Rolle sie in seiner Symphonik gespielt hat, das kann mit einer pauschalen Umformulierung der Musikgeschichte nicht beantwortet werden.
     Vor allem wird man sich darauf verständigen müssen, nach welchen Beziehungen man suchen will. Die hier wie dort unverkennbare Bedeutung des Zitats und der Anspielung spricht ganz generell für die von Mahler apostrophierte Geistesverwandtschaft. Elemente wie das Hörnergetön im zweiten Satz der E-dur-Symphonie deuten ebenso auf einen direkteren Bezug wie der Beginn des Schlußsatzes, in dem sich einwandfrei das "Zwischenreich" aus dem Finale der Auferstehungssymphonie mit seinen Vogelstimmen und dem "Rufer in der Wüste" vorbereitet. Der freizügige Umgang mit den überkommenen Formen ist beiden Komponisten gemein: Daß Hans Rott seine Symphonie gewissermaßen in zeitlicher Progression anlegt, daß sich also die Aufführungsdauer der Sätze kontinuierlich steigert, bis am Ende ein mehr als 20minütiges Tongedicht den Verlauf ins Unermeßliche wendet - diese ganz konkrete Konzeption ist bei Mahler nicht nachzuweisen. Gleichwohl geht das Symbol des status quo hier wie dort aus dem Leim, und sogleich denken wir an Robert Schumanns ambivalenten Aphorismus, wonach die Form das Gefäß des Geistes sei: Der Konservatismus wird diesen Satz stets dahingehend auslegen, daß die Kreativität sich dem präfabrizierten Ton=Krug zu fügen hat; der vorwärtsstrebende Geist aber formt sich seine Gefäße entweder selbst, um sie anschließend zu füllen, oder aber er erzeugt sie, während er vorwärtsstrebt ... So konnte Schumann seinen Carnaval schreiben oder seine Fantasie, die formal nichts anderes ist als eine rückwärts ablaufende und überdehnte Mondscheinsonate in drei Tondichtungen; so war es Gustav Mahler am Ende sogar möglich, in einer Symphonie (der Neunten) das Innere nach außen zu kehren; und so konnte auch Hans Rott sein quasi spiralförmiges Meisterwerk entwerfen.4
     Daß bislang das an dritter Stelle stehende Scherzo nicht angesprochen wurde, hat seinen guten Grund. Denn hier begegnen sich Rostbrat- und Quargelkomponist auf derart innige Weise, daß man sich zu der Vermutung könnte verleiten lassen, Mahler habe seinem "Spezi" nicht nur mit einigen Ideen, sondern gleich mit einer Fülle ausgearbeiteter Partiturseiten ausgeholfen und diese später in das Scherzo seiner eigenen ersten Symphonie integriert, nachdem Rott sie aus den oben geschilderten Gründen nicht mehr brauchte.
     Natürlich hat sich die Sache ganz anders zugetragen. Der dritte Satz der E-dur-Symphonie ist etwa acht Jahre älter als das Mahlersche Pendant und ohne den geringsten Zweifel der Blutsverwandte desselben. Weit interessanter aber als die oft beinahe wörtlichen Übereinstimmungen sollte sein, warum Gustav Mahler seinem Scherzo à la Rott einen Trauermarsch folgen läßt und warum auch der Ausbruch im dritten Satz der zweiten Symphonie mit Rotts "Worten" erfolgt: Sollte der (nach Schumann) größte Meister des raffinierten Zitats vielleicht dem Titan ein Denkmal gesetzt und ihm anschließend zur Auferstehung verholfen haben? Vergessen wir nicht, daß seine Partituren nicht weniger beziehungsreich sind als die bahnbrechenden Romane von Arno Schmidt: Immer muß man vermuten, daß das, was klingt, nicht das Gemeinte ist. Wer hätte wohl bis heute herausgefunden, was die erste Sonate aus Paganinis Centone am Anfang der fünften Symphonie zu suchen hat, warum sich im ersten Satz der Sechsten Beethovens Sturm-Sonate und Schumanns Manfred-Ouvertüre tummeln oder warum der Kopfsatz der Dritten mit dem Lied Ich hab' mich ergeben beginnt, das sich wie ein Schattenriß des Hauptthemas aus dem Finale der ersten Brahms-Symphonie darstellt?
     Wer nach einer Universal Symphony strebt, der muß ein- und darf nicht ausschließen. Dieses vermeintlich so naive Prinzip öffnet die Pforte zur neuen Symphonie: Ein Universum voller Musik, voller Zeichen und Begriffe steht zur Verfügung; alles läßt sich mit allem in Beziehung setzen, wird zum Glasperlenspiel - die Entscheidung aber, ob die Henne wichtiger sei als das Ei, wird plötzlich völlig irrelevant. Unversehens stehen Zeiten und Räume nebeneinander, die eigentlich nichts miteinander verbindet (wie kam es nur, daß Mahler die dritte Symphonie von Charles Ives im Gepäck hatte, als er zum letzten Mal in die Alte Welt reiste?). Und gerade da wird es spannend, ohne daß man zu Bernd Alois Zimmermanns Kugelgestalt der Zeit Zuflucht nehmen müßte ...
     Im Gegensatz zu der Symphonie E-dur wird Hans Rotts Pastorales Vorspiel (1877-80) überschätzt. Zwar kann man in der Partitur einige "mahlerische" Elemente aufspüren; insgesamt aber führt das Werk doch in eine andere Richtung - namentlich das Fugato wirkt wie eine Arbeit aus Bruckners kontrapunktischer Schule, und es wäre schon außerordentlich gewagt, diese Fuge als Flucht vor dem Gewitter zu interpretieren, das Ludwig van Beethoven in seiner Pastorale über das Lustige Beisammensein der Landleute hereinprasseln läßt. Wenn überhaupt, so kann man gegen Ende des hübschen Stimmungsbildes eine Vorwegnahme Max Regers spüren. Der aber war ja nun wieder zumindest verbaliter mehr an Brahms orientiert, und deswegen sollte der scheinbaren Antizpiation weit weniger Gewicht verliehen werden als der Tatsache, daß mit Hans Rott eines von vielen großen Talenten des 19. Jahrhunderts zwischen den Mühlsteinen des status quo zerrieben und dann wegen seines vermeintlichen Größen- und Verfolgungswahns um sein schöpferisches Leben gebracht wurde.
Eckhardt van den Hoogen
¹ Die Symphonie bleibt Fragment, das Sextett hat Rott offenbar kurz vor seinem Tode vernichtet.
² Das Schweigen der Lämmer mit Anthony Hopkins und Jodie Foster, USA 1990.
³ Heute ist natürlich alles ganz anders. Namentlich der Maßregelvollzug ist eine Errungenschaft, die nicht selten Amokläufe und Sexualverbrechen nach sich zieht bzw. dafür sorgt, daß Freigänger sich je nach ihrer Obsession das Leben nehmen, einen Gerichtssaal in die Luft sprengen oder die Mitglieder eines Parlaments niedermähen.
4 Eine gründliche, sozusagen taktweise Analyse der Symphonie von Frank Litterscheid findet sich im Hans-Rott-Band der Musik-Konzepte.

Copyright van den Hoogen/cpo ©2002
Mit freundlicher Erlaubnis des Autors (Pro Classics) und cpo

Der Beitrag ist Teil des Booklets zur CD:

Symphonie E-Dur (Neueinspielung)
Pastorales Vorspiel (Live-Aufnahme)
Radio Symphonieorchester Wien
Dennis Russell Davies
2002 (cpo 999 854-2)
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Nicht im deutschen Handel erhältlich, Alleinvertrieb in Deutschland über jpc


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