Aktualisiert
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4. März 2018 |
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Es gibt eine mentale
Marotte, die vielleicht nirgends anders auf der Welt
so klar und deutlich ausprägt ist wie in diesem unserem
Lande. Kaum geschieht auch nur einmal etwas unvorhergesehenes
oder nie dagewesenes, müssen sogleich Konsequenzen ersonnen
werden, deren Größenordnung nichts mit dem Ereignis
und seiner tatsächlichen Tragweite zu tun hat. Oft genug
wird man bei näherer Inspektion feststellen können,
daß die soeben reklamierte Welterschütterung kaum mehr
war als eine gelinde Flatulenz, die sich binnen kurzem
und ohne medikamentöse Beigaben praktisch von selbst
erledigt. Ein wenig Zeit, ein wenig Bedacht, und der
hysterische Anfall ist vorbei - vorausgesetzt natürlich,
daß die voraufgegangene Kanonade nicht unheilbaren Blessuren
unter den Spatzen hinterlassen hat ...
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Gegen Ende
der 1980er Jahre entdeckte der Musikwissenschaftler Paul
Banks in den Archiven der Österreichischen Nationalbibliothek
die Partitur der Symphonie E-dur von Hans Rott. Er verhalf
ihr zu einem aufführungswürdigen Aussehen, sorgte dafür,
daß das Werk der Öffentlichkeit vorgestellt wurde und
hatte der Musikwelt damit unbestrittenermaßen einen großen
Dienst erwiesen, denn immerhin tauchte ganz urplötzlich
aus den Abgründen der Geschichte ein bemerkenswertes Stück
auf, das es allemal verdiente, von den Freunden romantischer
Tonkunst gehört zu werden. |
Erstaunlich
waren aber die Reaktionen der Expertenkreise. Die von
großem Talent kündende Kreation eines damals gerade 20jährigen
Komponisten führte zu einem allgemeinen Aufschrei des
Entzückens, denn offensichtlich war endlich die Henne
gefunden, die das Ei des Columbus gelegt hatte. Jählings
war der junge Hans Rott der Vater der neuen Symphonie,
und der große Gustav Mahler, der Zeitgenosse der Zukunft,
der Wegweiser zur Moderne, erwies sich als Plagiator,
der sich aus dem Schaffen seines zwei Jahre älteren Studienkollegen
anscheinend hemmungslos bedient hatte. Zwangsläufig verstieg
man sich zu der Forderung, die ganze Musikgeschichte müsse
umgeschrieben werden ... |
Inzwischen
sind einige Jahre verstrichen. Die Wogen haben sich geglättet.
Der eine oder andere dürfte sich darauf besonnen haben,
daß Das klagende Lied nicht jünger, sondern mindestens
ebenso alt, wenn nicht gar ein wenig älter ist und weit
mehr "Mahler" enthält als die Symphonie von Hans Rott,
an der sich die Begeisterung entzündete. Und womöglich
gelangt man ja zu der Einsicht, daß es jetzt an der Zeit
wäre, die Flurschäden momentaner Euphorie durch eine einerseits
bedächtigere, andererseits aber auch umfassendere Sicht
der Dinge zu beheben. |
Über genügend
Material verfügen wir inzwischen. Neben vielen Einzelartikeln
befassen sich zwei Buchpublikationen mit dem Phänomen
Hans Rott, wobei vor allem die im Jahre 2000 von Uwe Harten
herausgegebenen Kompilation mit Biographie, Briefen, Aufzeichnungen
und Dokumenten aus dem Nachlaß von Maja Loehr (1888-1964)
Beachtung verdient, weil sie Fakten und keine vorschnellen,
zum Teil sogar unrichtigen Schlußfolgerungen liefert und
überdies einen Einblick hinter die Mauern der Niederösterreichischen
Landes-Irrenanstalt gewährt, wo Hans Rott den kläglichen
Rest eines Lebens verbringen mußte, das unter zwar chaotischen,
gleichwohl aber vielversprechenden Vorzeichen begonnen
hatte. |
Geboren wurde
Hans Rott am 1. August 1858 im 15. Wiener Bezirk als Sohn
des Schauspielers Carl Mathias Rott (Roth) und der Sängerin
und Schauspielerin Maria Rosalia Lutz. Die Heirat der
Eltern konnte erst stattfinden, nachdem die erste Frau
des Vaters 1860 verstorben war. Bei der Eheschließung
im Oktober 1862 brachte Maria Rosalia gleich noch ein
Kind mit, den am 20. Dezember 1860 geborenen Karl, als
dessen Erzeuger Erzherzog Wilhelm in den Akten zu finden
ist. Dessenungeachtet ließ Vater Rott die beiden Halbgeschwister
legimitieren, so daß sie seit Anfang 1863 denselben Familiennamen
führen konnten wie die - zumindest offiziellen - Eltern. |
Hans Rotts
schulische Ausbildung verlief in den üblichen Bahnen,
die finanzielle Situation war zufriedenstellend, und es
gab keinen Grund, warum er seinen frühen musikalischen
Neigungen nicht hätte nachgeben sollen. Im Wintersemester
1874/75 immatrikulierte sich Rott am Wiener Konservatorium,
wo er schon bald für ein Jahr ganz vom Schulgeld befreit
wurde und anschließend als Stipendiat sein Auskommen hatte.
Er studierte bei Hermann Grädener Harmonielehre und bei
Leopold Landskron Klavier. Zudem war er Orgelschüler von
Anton Bruckner, der ihn sehr schätzte und ihm noch 1880
ein vorzügliches Zeugnis ausstellte. |
Indessen hatte
sich die familiäre Lage drastisch verschlechtert. Schon
1872 war die Mutter gestorben, im April 1875 erlitt der
Vater einen Bühnenunfall, der eine weitere Schauspieltätigkeit
unmöglich machte und schließlich im Februar 1876 zum Tode
führte. Hans Rott mußte zeitweilig als Kontorist arbeiten,
konnte sich zugleich aber auch über zwei Ehrenpreise des
Konservatoriums freuen, trotz aller Widrigkeiten seine
Ausbildung fortsetzen und bald als Organist des Josefstädter
Kirchenmusikvereins mit freier Wohnung einer "artgerechteren"
Arbeit nachgehen. |
Derweil wuchs
das eigene Werkverzeichnis. Das erste größere Produkt
der Konservatoriumszeit war eine Symphonie As-dur für
Streichorchester (1874/75); es folgten unter anderem ein
Symphonie-Finale, je eine Ouvertüre zu Hamlet und
zu Julius Cäsar und eine Orchestersuite; dazwischen
verfaßte Rott geistliche und weltliche Chorsätze sowie
einige Lieder. Außerdem entwirft er die Anfänge eines
Oratoriums. Nachdem man ihn Anfang November 1878 auf eigenen
Wunsch mit einem umfassenden Empfehlungsschreiben aus
seinem Organistenamt entlassen hat, beginnt er mit der
Ausarbeitung seiner Symphonie E-dur, deren ersten Satz
er bereits im Juli desselben Jahres beim Kompositionswettbewerb
des Konservatoriums eingereicht hat - trotz der Fürsprache
Anton Bruckners erhält Rott als einziger Absolvent keinen
Preis, obwohl ihm das Abgangs-Zeugnis bescheinigt, daß
er den "Lehrkurs der Compositionsschule" mit vorzüglichem
Erfolge beendet hat. |
Kleinere Reisen
und Ausflüge, eine "große Liebe" - die erste und einzige
seines Lebens - und die Vollendung der Symphonie fallen
in die Jahre 1879/80. Das 1877 begonnene Pastorale
Vorspiel wird abgeschlossen. Eine zweite Symphonie
entsteht. Ein Sextett für Streicher ist fertig¹.
Anfang September bemüht sich Hans Rott erfolglos, Hans
Richter zu einer Aufführung der ersten Symphonie zu bewegen.
Kaum zwei Wochen später besucht er Johannes Brahms, der
neben Eduard Hanslick und Karl Goldmark über die Vergabe
eines Staatsstipendiums zu entscheiden hat. Brahms bezweifelt,
daß die Symphonie von Rott stammt, da neben so schönem
wieder so viel Triviales oder Unsinniges in der Composition
sei, daß dies erstere nicht von Rott herrühren könne.
Noch einmal nimmt Hans Rott Anlauf. Er hat inzwischen
bei einer Chorvereinigung im elsässischen Mülhausen/Mulhouse
die Stelle eines Musikdirektors oder Chorleiters in Aussicht,
doch auf eine mögliche Aufführung der Symphonie will er
nicht verzichten: Am 14. Oktober spielt er Hans Richter
das Werk vor. Am 21. bringen ihn seine Freunde zum Zug
Richtung Mülhausen. Bei einem Zwischenaufenthalt in Linz
hört er an den Wänden seines Zimmers Klopfgeräusche. Am
22. oder 23. fährt er weiter. Ein Mitreisender will sich
eine Zigarre anstecken. Rott zieht seinen Revoler und
bedroht den Mann. Er fürchtet, Brahms habe den Zug mit
Dynamit füllen lassen. Am 23. Oktober wird er in vollständig
verworrenem Zustande in die Psychiatrische Klinik
des Allgemeinen Krankenhauses von Wien gebracht. Damit
ist sein Todesurteil gesprochen. Nach einem ersten Selbstmordversuch
wird Rott Anfang 1881 in die Niederösterreichische Landes-Irrenanstalt
überstellt. Am 25. Juni 1884 stirbt er dort im Alter von
nicht einmal 26 Jahren. |
Den Behandelnden
muß man zu ihrer Ehrenrettung attestieren, daß Hans Rott
verhältnismäßig lange durchgehalten hat. Robert Schumann
brachte es in Endenich gerade mal auf zwei Jahre und fünf
Monate, und Friedrich Hölderlin hätte wohl nicht einmal
diese Spanne in der Autenriethschen Klinik zu Tübingen
überlebt, wäre er nicht noch gerade rechtzeitig in den
Turm des Schreinermeisters Zimmer gebracht worden: Wer
wollte schon die Autenriethsche Maske, die die Insassen
am Schreien hindern sollte und allen Beschreibungen nach
Hannbibal Lecters Maulkorb täuschend ähnlich sahc - wer
wollte ein solch menschenunwürdiges Gerät auch nur einen
Tag überstehen, wenn er nicht ein wirklicher Psychopath
ist? |
Ein Ausflug
in den psychiatrischen Jetztzustand des Jahres 1880 scheint
an dieser Stelle angebracht. "Die Einteilung der Geisteskrankheiten
ist ... bis jetzt auf anatomischer Grundlage nicht zu
machen", lesen wir in der damals aktuellsten Enzyklopädie,
indessen wir unter demselben Stichwort erfahren, daß es
sich bei Geisteskrankheiten um diejenigen Krankheiten
handelt, welche sich durch Störungen im Gebiet der Sinneseindrücke,
des Vorstellens, Wollens oder Handelns kundgeben.
Tenor aller Ausführungen ist, daß Wahnideen, Wahnsinn
und Verfolgungswahn grundsätzlich unheilbar sind,
indessen sich die Psychiatrie - ohne zu erröten
- als Seelenheilkunde apostrophieren läßt. Jede
Abnormität, und sei's auch nur die, eine Berufung in sich
zu spüren, kann als krankhaft ausgelegt und dementsprechend
mit "Wegsperren" behandelt werden: Jede Überanstrengung
des Gehirns, angestrengte geistige und gemütliche Erregung
[= Erregung des Gemüts] ist zu vermeiden, dagegen soll
ganz besonders die Ausbildung und Übung der körperlichen
Kräfte im Auge behalten werden; es muß immer soviel wie
möglich auf die einfachsten, geordnetsten äußern Verhältnisse,
auf Fernhaltung leidenschaftlicher Erregungen, auf Gewöhnung
an Unterordnung unter objektiv gegebene Verhältnisse hingewirkt
werden. |
Was hier wie
eine Karikatur klingt, sind Auszüge aus der vierten Auflage
von Meyer's Konversations=Lexikon, das vier Jahre
nach dem Dahinscheiden von Hans Rott auf den Markt kam.
Hier finden wir die Behandlungsgrundlagen einer Clique,
die - ungetrübt von jeder Sachkenntnis - seit jeher die
Lizenz hat, den status quo zu erhalten, mithin
auf die Gewöhnung an Unterordnung unter objektiv gegebene
Verhältnisse zu achten, ob es sich dabei nun um Sozialdemokraten
oder "größenwahnsinnige" Künstler handelte. Der Gulag
war überall.³ |
Damit soll
ja nicht gesagt sein, daß es zum normalen Benehmen gehört,
einen Raucher mit Waffengewalt von seinem Genuß abzuhalten.
Doch der Mangel an Augenmaß, der die Zunft der selbsternannten
Seelenklempner auszeichnet, ist auch im Falle des unglückseligen
Hans Rott offensichtlich. Was wäre denn geschehen, wenn
einige Freunde den zutiefst verunsicherten Komponisten
zum Beispiel ins steierische Salzkammergut entführt, ihn
mit einem Klavier, einem Stapel Notenpapier, einigen Festmetern
Holz und einer Holzfälleraxt versorgt, wenn sie ihm in
ruhiger Umgebung die Möglichkeit zu geistiger und körperlicher
Tätigkeit gegeben hätten? So aber, umgeben von echten
und eingebildeten Geisteskrankheiten, mußte er
ebenso "überschnappen" wie Robert Schumann vor ihm. |
Beängstigend
daran ist zweierlei: Die Willfährigkeit, mit der die vermeintlichen
Diagnosen durch die Literatur weitergetragen werden, und
die Selbstherrlichkeit der Diagnostiker, die immer nur
die Symptome, nie aber die möglichen Auslöser kennen.
Und gerade diese wären interessant. Wie kommt es denn,
daß uns unter dem Stichwort Johannes Brahms sowohl Robert
Schumann als auch Hans Rott und Hugo Wolf begegnen? Ist
das wirklich nur biographischer Zufall? Anton Bruckner
muß anderer Meinung gewesen sein, denn am Sarge seines
Lieblingsschülers Rott machte er seinem ortsansässigen
Konkurrenten Brahms solche Vorwürfe, daß sich selbst Rotts
Freund Friedrich Loehr, der Vater der oben erwähnten Publizistin
Maja Loehr, zu einem gedanklichen Spagat genötigt sah:
"Ich glaube, Brahms hat dies [die Zurechtweisung] dem
'Anfänger' gegenüber, der mit dem Aufgebot grösster Ausdrucksmittel
seiner Kunst einsetzte, in guter 'pädagogischer' Absicht
getan, er konnte aus den Erfahrungen und Überzeugungen
des eigenen künstlerischen Wachstums und Wesens heraus
nicht anders, und ich glaube, dass er objektiv damit ein
echtestes künstlerisches Unrecht begangen hat. Damals
aber, es war knapp vor dem Ausbruch der Krankheit, war
Rott überhaupt nicht mehr zu retten und seinem herben
Geschick verfallen: seine Erkrankung, durch ganz andere
psychische und seelische Momente hervorgerufen, hatte
sich lange schon vorbereitet" (Friedrich Loehr, Die
Musik, 1903/04). |
Der Klimmzug
konnte nicht gelingen, denn einmal unterschlug Loehr die
"ganz anderen Momente", und zum andern übersah er das
Umfeld, in dem beispielsweise ein Heinrich von Herzogenberg
über lange Jahre versuchte, Anerkennung zu finden; in
dem sich ein Max Bruch fragen lassen mußte, woher er denn
das schöne Notenpapier habe; und von dem auch eine Ethel
Smyth - wahrlich ein zäherer Charakter als Rott oder Schumann
- nicht eben schmeichelhafte Dinge zu berichten wußte.
Überdies erinnere man sich des Brahms-Freundes Hans Richter,
der die Penthesilea von Hugo Wolf nach Strich und
Faden niedermachte, weil der junge Wolf den großen Brahms
zuvor in seinen Kritiken angegriffen hatte ... |
Johannes Brahms
soll hier keineswegs am Zeuge geflickt werden, da seien
seine Werke vor. Es sollte einem aber doch vielleicht
zu denken geben, daß Wolf und Rott - wie auch Gustav Mahler
- Schüler von Anton Bruckner waren und sich nicht auf
jener klassizistischen Linie bewegten, die mit dem Erhalt
des status quo kokettierte. Allenfalls könnte man
sich zu der eleganten Hypothese bereitfinden, die ganze
Sache sei nichts weiter als ein perpetuiertes Mißverständnis
gewesen, will sagen, Brahms hätte den Sinn der Trivialitäten,
wie sie sich in Rotts symphonischer Partitur tatsächlich
tummeln, nicht begriffen. Es wäre ein verträglicher
Ausweg, insofern man das Schicksal des Mahlerschen Œuvres
gleichsam als Zeugnis anführen könnte: Wie lange hat es
nicht gedauert, bis die disparaten Substanzen seiner
Werke als das erkannt wurden, was sie wirklich sind -
Teile nämlich jener Welten, die Symphonien nach seiner
Ansicht zu sein hatten? Wo die schönen Trompeten blasen,
wo Bruder Jakob im Trauermarsch dahinzieht
und wo Kuckuck sich zu Tod gefall'n hat, da streikten
noch bis vor wenigen Jahrzehnten viele Beobachter, die
ausgezogen waren, die Banalität das Fürchten zu lehren.
Die Aufgabe des Zitats, der Anspielung, des thematischen
"Schattenrisses", bei dem man nur ahnt, was hinter den
Konturen zum Vorschein kommen könnte - all das blieb dem
Blick der strengen Sittenwächter ebenso verborgen wie
die Lebensleistung Robert Schumanns, den man wohl ohne
Übertreibung als den eigentlichen Vater des literarisch-musikalischen
Komponierens wird bezeichnen dürfen: Wer im ersten Thema
des Klavierkonzerts nicht Florestans In des Lebens
Frühlingstagen hört oder die mannigfachen Wandlung
der beinahe obsessiven rhythmischen Bildung |
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mit ihren unterschiedlichen Ausprägungen
nicht durch das gesamte Schaffen zu verfolgen, sondern
höchstens die Marseillaise im Faschingsschwank
wahrzunehmen imstande ist, der wird mit einem großen Teil
des spätromantischen Repertoires seine liebe Not haben,
ob es nun um Peter Tschaikowsky, Gustav Mahler, Hans Rott
oder auch um Johannes Brahms geht, der ja ein Idiot hätte
sein müssen, wenn er nicht sofort entdeckt hätte, welchen
Spiegel ihm der junge Schüler seines Kontrahenten da am
16. oder 17. September 1880 vorhielt - eine symphonische
Weltkarte des 19. Jahrhunderts, auf der auch er selbst,
der norddeutsche Wahlwiener, als eine von vielen bekannten
Größen aus Geschichte und Gegenwart verzeichnet war. |
Gewiß, Hans
Rott hatte mit seinen nachgerade "unsittlichen" Avancen
den Bock zum Gärtner gemacht und war in einer wundersamen
Naivität jemandem auf die Zehen gestiegen, der das - wie
sich im Finale der Symphonie zeigen wird - gar nicht mochte.
Bei der "größenwahnsinnigen" Suche nach einer universellen
Musik hatte er offenbar nicht bedacht, auf was er sich
einließ, als er versuchte, die Wienerischen Antipoden
Brahms und Brucker zu versöhnen und weit darüber hinaus
auch noch verschiedene Stolpersteine wie Wagner und Schumann
in seine Komposition zu integrieren. |
Versetzen
wir uns doch in die Lage des damaligen Zuhörers und stellen
wir uns vor, was er empfunden haben wird, als er im ersten
Satz den Meistersingern von Nürnberg [bei ca. 5'
der vorliegenden Aufnahme] begegnete oder im reichlichen
Gebrauch des Triangls eine Beziehung zur Frühlingssymphonie
vermuten mußte - ganz zu schweigen von den Anklängen an
Lohengrin und Rheingold, die der Anti-Wagnerianer
Nr. 1 nicht hätte ignorieren können. Der zweite Satz macht
es auch nicht leichter, denn hier taucht nach einiger
Zeit [1'40] das oben angedeutete Schumann-Motiv auf, das
sich aufgrund seiner häufigen Anwendung unschwer mit "Clara"
in Verbindung bringen läßt und Brahms wahrhaft geläufig
war (man denke an den Anfang seiner dritten Symphonie).
Hans Rott beläßt es nicht bei dem einmaligen Hinweis,
nein, er wiederholt das Motiv einige Minuten später noch
einmal [4'30], damit es auch "jeder Esel hört" - sehr
wahrscheinlich ohne zu wissen, welchen Nerv er damit treffen
würde. |
Und im Finale
treibt er's gar zu arg. Nachdem er ganz im Sinne der fünften
Symphonie von Anton Bruckner zunächst das vorherige Geschehen
hat Revue passieren lassen, wählt er eine Melodie, die
(unabsichtlich?) provoziert: Die Nähe zum Finalthema aus
der ersten Symphonie von Johannes Brahms ist so offenkundig
[4'40], daß sich der Gutachter vielleicht sogar auf den
Arm genommen fühlte. Die Wiederholungen [8'20 und 12'25]
werden den ungünstigen Eindruck nur noch verstärkt haben,
und daß der Komponist den quasi-zitierten Brahms schließlich
mit den Göttern in Walhall einziehen ließ, machte seinen
Geisteszustand evident: Hans Rott war der primären
Verrücktheit erlegen, die meist junge Individuen
von 17-25 Jahren oder ältere, namentlich Frauen, im 40.-50.
Lebensjahr befällt. |
Aus der Sicht
des Kommilitonen Gustav Mahler stellte sich der Sachverhalt
völlig anders dar. Zwar hatten sich die beiden Studenten
furchtbar darüber gestritten, ob man zum Komponieren Rostbraten
brauche oder sich nicht vielmehr mit Quargeln (= eine
Art Harzer Käse) bescheiden könne; doch die Auseinandersetzung
zwischen dem Rostbratkomponisten Rott und dem Quargelkomponisten
Mahler ging nie so weit, daß darunter die gegenseitige
Wertschätzung gelitten hätte. Noch im Irrenhaus antwortete
Rott auf die Frage, ob er sich an Mahler erinnere: "Gewiß,
gewiß, Mahler ist ein Genie" (nach den Aufzeichnungen
des Freundes Joseph Seemüller). Und dieser äußerte: "Was
die Musik an ihm verloren hat, ist gar nicht zu ermessen:
zu solchem Fluge erhebt sich sein Genius schon in seiner
Ersten Symphonie, die er als zwanzigjähriger Jüngling
schrieb und die ihn - es ist nicht zu viel gesagt - zum
Begründer der neuen Symphonie macht, wie ich sie verstehe.
Allerdings ist das, was er wollte, noch nicht ganz erreicht.
Es ist, wie wenn einer zu weitestem Wurfe ausholt und,
noch ungeschickt, nicht völlig ans Ziel hintrifft. Doch
ich weiß, wohin er zielt. Ja, er ist meinem Eigensten
so verwandt, daß er und ich mir wie zwei Früchte von demselben
Baum erscheinen, die derselbe Boden erzeugt, die gleiche
Luft genährt hat. An ihm hätte ich unendlich viel haben
können und vielleicht hätten wir zwei zusammen den Inhalt
dieser neuen Zeit, die für die Musik anbrach, einigermaßen
erschöpft" (Gustav Mahler in den Erinnerungen von Nathalie
Bauer-Lechner). |
Daß Gustav
Mahler die E-dur-Symphonie schon früh genau gekannt hat,
ist dokumentiert: Joseph Seemüller, der Rott am Heiligen
Abend des Jahres 1882 einen Besuch abstattet, berichtet
dem bedauernswerten Freund, der einstige Weggefährte habe
das Werk kürzlich im privaten Kreise gespielt. Welchen
Einfluß aber die Partitur auf Mahlers eigenen Weg ausgeübt,
welche Rolle sie in seiner Symphonik gespielt hat, das
kann mit einer pauschalen Umformulierung der Musikgeschichte
nicht beantwortet werden. |
Vor allem
wird man sich darauf verständigen müssen, nach welchen
Beziehungen man suchen will. Die hier wie dort unverkennbare
Bedeutung des Zitats und der Anspielung spricht ganz generell
für die von Mahler apostrophierte Geistesverwandtschaft.
Elemente wie das Hörnergetön im zweiten Satz der E-dur-Symphonie
deuten ebenso auf einen direkteren Bezug wie der Beginn
des Schlußsatzes, in dem sich einwandfrei das "Zwischenreich"
aus dem Finale der Auferstehungssymphonie mit seinen
Vogelstimmen und dem "Rufer in der Wüste" vorbereitet.
Der freizügige Umgang mit den überkommenen Formen ist
beiden Komponisten gemein: Daß Hans Rott seine Symphonie
gewissermaßen in zeitlicher Progression anlegt, daß sich
also die Aufführungsdauer der Sätze kontinuierlich steigert,
bis am Ende ein mehr als 20minütiges Tongedicht den Verlauf
ins Unermeßliche wendet - diese ganz konkrete Konzeption
ist bei Mahler nicht nachzuweisen. Gleichwohl geht das
Symbol des status quo hier wie dort aus dem Leim,
und sogleich denken wir an Robert Schumanns ambivalenten
Aphorismus, wonach die Form das Gefäß des Geistes
sei: Der Konservatismus wird diesen Satz stets dahingehend
auslegen, daß die Kreativität sich dem präfabrizierten
Ton=Krug zu fügen hat; der vorwärtsstrebende Geist aber
formt sich seine Gefäße entweder selbst, um sie anschließend
zu füllen, oder aber er erzeugt sie, während er vorwärtsstrebt
... So konnte Schumann seinen Carnaval schreiben
oder seine Fantasie, die formal nichts anderes
ist als eine rückwärts ablaufende und überdehnte Mondscheinsonate
in drei Tondichtungen; so war es Gustav Mahler am Ende
sogar möglich, in einer Symphonie (der Neunten) das Innere
nach außen zu kehren; und so konnte auch Hans Rott sein
quasi spiralförmiges Meisterwerk entwerfen.4 |
Daß bislang
das an dritter Stelle stehende Scherzo nicht angesprochen
wurde, hat seinen guten Grund. Denn hier begegnen sich
Rostbrat- und Quargelkomponist auf derart
innige Weise, daß man sich zu der Vermutung könnte verleiten
lassen, Mahler habe seinem "Spezi" nicht nur mit einigen
Ideen, sondern gleich mit einer Fülle ausgearbeiteter
Partiturseiten ausgeholfen und diese später in das Scherzo
seiner eigenen ersten Symphonie integriert, nachdem Rott
sie aus den oben geschilderten Gründen nicht mehr brauchte.
|
Natürlich
hat sich die Sache ganz anders zugetragen. Der dritte
Satz der E-dur-Symphonie ist etwa acht Jahre älter als
das Mahlersche Pendant und ohne den geringsten Zweifel
der Blutsverwandte desselben. Weit interessanter aber
als die oft beinahe wörtlichen Übereinstimmungen sollte
sein, warum Gustav Mahler seinem Scherzo à la Rott einen
Trauermarsch folgen läßt und warum auch der Ausbruch im
dritten Satz der zweiten Symphonie mit Rotts "Worten"
erfolgt: Sollte der (nach Schumann) größte Meister des
raffinierten Zitats vielleicht dem Titan ein Denkmal
gesetzt und ihm anschließend zur Auferstehung verholfen
haben? Vergessen wir nicht, daß seine Partituren nicht
weniger beziehungsreich sind als die bahnbrechenden Romane
von Arno Schmidt: Immer muß man vermuten, daß das, was
klingt, nicht das Gemeinte ist. Wer hätte wohl bis heute
herausgefunden, was die erste Sonate aus Paganinis Centone
am Anfang der fünften Symphonie zu suchen hat, warum sich
im ersten Satz der Sechsten Beethovens Sturm-Sonate
und Schumanns Manfred-Ouvertüre tummeln oder warum
der Kopfsatz der Dritten mit dem Lied Ich hab' mich
ergeben beginnt, das sich wie ein Schattenriß des
Hauptthemas aus dem Finale der ersten Brahms-Symphonie
darstellt? |
Wer nach einer
Universal Symphony strebt, der muß ein- und darf
nicht ausschließen. Dieses vermeintlich so naive Prinzip
öffnet die Pforte zur neuen Symphonie: Ein Universum voller
Musik, voller Zeichen und Begriffe steht zur Verfügung;
alles läßt sich mit allem in Beziehung setzen, wird zum
Glasperlenspiel - die Entscheidung aber, ob die Henne
wichtiger sei als das Ei, wird plötzlich völlig irrelevant.
Unversehens stehen Zeiten und Räume nebeneinander, die
eigentlich nichts miteinander verbindet (wie kam es nur,
daß Mahler die dritte Symphonie von Charles Ives im Gepäck
hatte, als er zum letzten Mal in die Alte Welt reiste?).
Und gerade da wird es spannend, ohne daß man zu Bernd
Alois Zimmermanns Kugelgestalt der Zeit Zuflucht
nehmen müßte ... |
Im Gegensatz
zu der Symphonie E-dur wird Hans Rotts Pastorales Vorspiel
(1877-80) überschätzt. Zwar kann man in der Partitur einige
"mahlerische" Elemente aufspüren; insgesamt aber führt
das Werk doch in eine andere Richtung - namentlich das
Fugato wirkt wie eine Arbeit aus Bruckners kontrapunktischer
Schule, und es wäre schon außerordentlich gewagt, diese
Fuge als Flucht vor dem Gewitter zu interpretieren,
das Ludwig van Beethoven in seiner Pastorale über
das Lustige Beisammensein der Landleute hereinprasseln
läßt. Wenn überhaupt, so kann man gegen Ende des hübschen
Stimmungsbildes eine Vorwegnahme Max Regers spüren. Der
aber war ja nun wieder zumindest verbaliter mehr an Brahms
orientiert, und deswegen sollte der scheinbaren Antizpiation
weit weniger Gewicht verliehen werden als der Tatsache,
daß mit Hans Rott eines von vielen großen Talenten des
19. Jahrhunderts zwischen den Mühlsteinen des status
quo zerrieben und dann wegen seines vermeintlichen
Größen- und Verfolgungswahns um sein schöpferisches Leben
gebracht wurde. |
Eckhardt van den Hoogen
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¹ Die Symphonie bleibt Fragment, das
Sextett hat Rott offenbar kurz vor seinem Tode vernichtet.
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² Das Schweigen der Lämmer mit Anthony
Hopkins und Jodie Foster, USA 1990. |
³ Heute ist natürlich alles ganz anders.
Namentlich der Maßregelvollzug ist eine Errungenschaft,
die nicht selten Amokläufe und Sexualverbrechen nach sich
zieht bzw. dafür sorgt, daß Freigänger sich je nach ihrer
Obsession das Leben nehmen, einen Gerichtssaal in die
Luft sprengen oder die Mitglieder eines Parlaments niedermähen. |
4 Eine
gründliche, sozusagen taktweise Analyse der Symphonie
von Frank Litterscheid findet sich im Hans-Rott-Band
der Musik-Konzepte. |
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Copyright van den Hoogen/cpo ©2002 |
Mit freundlicher Erlaubnis des Autors (Pro
Classics) und cpo
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Der Beitrag ist Teil des Booklets zur CD:
Symphonie E-Dur (Neueinspielung)
Pastorales Vorspiel (Live-Aufnahme)
Radio Symphonieorchester Wien
Dennis Russell Davies
2002 (cpo 999 854-2)
Mehr zur CD
Nicht im deutschen Handel erhältlich, Alleinvertrieb
in Deutschland über jpc
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